22. April 2022
Wien und die Welt

Über Nähe und Ferne

von Hannah Landsmann
© Jüdisches Museum Wien
Würden wir nicht seit dem 24. Februar dieses Jahres täglich von der Ukraine hören oder lesen, würde hier ein anderer Text veröffentlicht worden sein. Etwas anderes als „Ukraine“ wäre der Suchbegriff für eine Reise in die Sammlung des Museums, in sein Innerstes gewesen, der Sie durch Wien oder an irgendeinen anderen Ort geführt hätte. Dass „Ukraine“ 74 Mal im Inventarverzeichnis des Jüdischen Museums Wien aufscheint, mag bei einiger Kenntnis der historischen Tatsachen nicht verwundern, schließlich gab es im Gebiet der heutigen Ukraine bereits in der hellenistischen Zeit jüdische Siedlungen. Auf der Krim lebten die Krimtschaken und die dem rabbinischen Judentum oppositionell gegenüberstehenden Karäer. Ein Mose von Kiew wird von Meir von Rothenburg, einem hochrangigen deutschen Rabbiner des Mittelalters, zitiert.

Seit 1340 gehörte der westliche Teil der Ukraine zum Königreich Polen, Handels- und Glaubensfreiheit wurden in großem Umfang gewährt. Unter König Sigismund I. erlebte das polnische Königreich ab 1506 seine größte Machtfülle und die jüdischen Gemeinden eine Blütezeit. Nach der Teilung der Ukraine 1772 kam der nördliche Teil mit Wolynien und Podolien zu Russland und der südliche Teil mit Galizien zu Österreich. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Jüdinnen und Juden in vielen Städten die größte Bevölkerungsgruppe. Bedingt durch Pogrome in den 1880er- und den folgenden Jahren wanderten viele von ihnen nach Mittel- oder Westeuropa und in die USA aus.

Anstelle einer genaueren Darstellung der kulturhistorischen Zusammenhänge zwischen Städten wie Lemberg, Odessa oder Brody, Wien und dem jüdischen Museum – dem ersten und dem heutigen – will dieser Beitrag nicht die berühmten Namen und Sachverhalte nennen und beschreiben, sondern für einen Moment aufmerksam dafür machen, wie nah die knapp 1000 Kilometer Entfernung sind, die zwischen „Unserer Stadt!“ und der ukrainischen Grenze liegen.

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Jenny Wagschal ist die Mutter von Paul Peter Porges, deren Familie aus Czernowitz stammte und eine Vertretung für Nähmaschinen aus dem Hause Singer innehatte. Wir sehen sie hier als junges Mädchen, das später mit ihrem Mann Gustav und den Söhnen Kurt und Paul Peter im 15. Wiener Gemeindebezirk lebte. Ihre beiden Söhne konnten mit einem Kindertransport nach Frankreich gerettet werden, Paul Peter wurde Cartoonist und sein schon in Wien gebräuchlicher Spitzname PPP sein Künstlername. Er und seine Frau Lucie waren schon zu ihren Lebzeiten dem Jüdischen Museum Wien eng verbunden gewesen und bleiben es, da ein umfangreicher Bestand an Archivalien der Sammlung unseres Hauses übergeben worden war.

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© Jüdisches Museum Wien
Die Söhne des Arztes, Archivars und 1848er Revolutionärs Ludwig August Frankl schenkten dem alten jüdischen Museum in Wien am 22. Oktober 1895, dem Gründungsjahr dieser Institution, ein hebräisches Gedicht, das handgeschrieben und gebunden, mit hebräischer Widmungsinschrift versehen seinerseits ein Geschenk gewesen ist, nämlich zum 70. Geburtstag des Dr. Ludwig August Frankl, Ritter von Hochwart. Der Verfasser des Festgedichtes „Yerusalaym Habnuya“ ist Isac Jonas Grünes aus Lemberg. Lemberg oder Lwiw war eines der bedeutendsten Zentren des jüdischen Osteuropa. Mit großer Euphorie setzte sich Ludwig August Frankl zur Ehrung des deutschen Dichters Friedrich Schiller durch eine Statue in Wien ein. Die Aufstellung einer Statue auf einem öffentlichen Platz war in Wien bis dahin nur Herrschern und Feldherren vorbehalten gewesen. Die Enthüllung fand am 10. November 1876 auf dem Platz vor der Akademie der bildenden Künste statt. Das Goethe-Denkmal befindet sich in Sichtweite gegenüber und wurde 1900 errichtet.

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© Jüdisches Museum Wien
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© Jüdisches Museum Wien
Laut Inventar-Katalog des alten jüdischen Museums wurde die 3 x 2 cm kleine Bibel 1934 von Kurator Dr. Jakob Bronner aus dem Besitz des Rebben von Jezierna erworben. Jezierna (ukr. Ozernyany) liegt etwa 100 km südöstlich von Lemberg in der heutigen Ukraine und war ein typisches ostgalizisches Schtetl mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, die zum Großteil dem Chassidismus anhing. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten sehr viele galizische Juden nach Wien ein, unter ihnen auch einige chassidische Rebben aus berühmten Dynastien, die in Wien private Bethäuser aufmachten. Es ist durchaus möglich, dass der Rebbe von Jezierna bei einem Besuch in Wien das Büchlein dem Museum übergeben hat. Ursprünglich umfasste die Miniaturbibel 605 Seiten, der Text ist nur mehr teilweise bis zum Buch Könige I vorhanden. Im Inventarbuch sind ein Metallumschlag und eine eingearbeitete Lupe genannt, die ebenfalls fehlen.

Am 02.01.1904 wurde dieses Objekt von Dr. Samuel Weissenberg als Leihgabe an das alte jüdische Museum übergeben. Es handelt sich um einen sogenannten Haman-Klöppel, der wie die bekannteren Purim-Ratschen dazu verwendet wird, um beim Lesen aus der Esther-Rolle zu Purim den Namen von Haman, der die persischen Jüdinnen und Juden töten wollte, zu übertönen. Hergestellt wurde der Klöppel in Nowogeorgiewsk, das sich heute auf dem Grund des Krementschuker Stausees befindet, der im Zuge der ab 1962 erfolgten Aufstauung des Flusses Dnepr entstanden ist. Der Arzt und Ethnologie Samuel Weissenberg versorgte das erste jüdische Museum mit zahlreichen Leihgaben, die das volkskundliche Interesse und den osteuropäischen Sammlungsschwerpunkt des Museums bezeugen.

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Der abgebildete Mann ist Chaim Elazar Spira, der Oberrabbiner von Munkatsch. Spira wurde 1871 in Strzyżów in Galizien geboren und starb 1937 in Munkatsch. Spira ist der lateinische Name der deutschen Stadt Speyer und Munkatsch heißt slowakisch Mukačevo und ungarisch Munkács. Die in der westukrainischen Oblast Transkarpatien gelegene Stadt hat heute etwa 85.000 Einwohner. 14 Kilometer südwestlich von Munkács erstreckte sich das Dorf Ngylucska, wo am 3. Juni 1893 Heinrich Niszan Chaim Edlisz geboren wurde, der ab 1913 in Wien lebte und hier am 8. Mai 1921 Gisella Kallus heiratete, die aus einem Dorf unweit von Munkács stammte. Einer der Nachbarn des jungen Ehepaares in der Liechtensteinstraße 130 im 9. Wiener Gemeindebezirk war Dr. Jakob Bronner, der hier schon genannte Kurator des alten jüdischen Museums. Gisella und ihre drei Kinder Lotte, Stefan und Herbert konnten 1941 endlich Wien verlassen. Stefan machte in seiner neuen Heimat eine großartige Karriere und wurde zu einem der bedeutendsten Sammler zeitgenössischer Kunst. Seiner Biografie und Sammelleidenschaft, die auch vor kontroversen Werken nicht zurückschreckte, ist die derzeit laufende Ausstellung „Eine (un-)erfreuliche Reise. Stefan Edlis‘ Leben nach Ihm“ gewidmet.

Ein Besucher des Jüdischen Museums Wien aus Japan überließ dem Archiv 2004 elf Farbfotos, die er zuvor auf seiner Reise nach Brody gemacht hatte. Auf den relativ kleinen Bildern ist nicht viel zu erkennen – außer, dass nicht mehr ist, was einmal war.
Ebenfalls aus Japan stammt der berühmte Hase mit den Bernsteinaugen, der mit zahlreichen anderen Netsukes und Objekten aus dem Familienarchiv in der Ausstellung über die Familie Ephrussi zu sehen war. Die Ephrussis waren in Odessa mit Weizenhandel wohlhabend geworden. Von Odessa nach Wien und Paris, nach Spanien, Südamerika, in die USA, nach Großbritannien und bis nach Japan reisten und flüchteten die Ephrussis, die erst Edmund de Waals Buch einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte.

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Diese Postkarte wurde eigens für die Ausstellung „Die Ephrussis. Eine Zeitreise“ angekauft. Das Blau des Himmels ist sehr hell. Kernstück der Ausstellung bildete das Familienarchiv der Ephrussis, das die Familie de Waal dem Jüdischen Museum Wien 2018 schenkte, sowie 157 Netsukes, die uns als langfristige Leihgabe von der Familie zur Verfügung gestellt wurden. Der erste Ausstellungsraum ließ Besucherinnen und Besucher nach Odessa reisen, aber ob wir damals alle sofort die Ukrainische Flagge im Kopf hatten? Vermutlich nicht. Obwohl das Gelb der Weizen ist.