08. August 2022
Wien und die Welt

„Wie macht das Motta?“

von Sabine Apostolo
© Jüdisches Museum Wien
 
 
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© AzW, Foto: Otto Tomann
Im November 1950 schickte der Architekt Oswald Haerdtl einen Mitarbeiter des Wiener Kaffeegroßhändlers Alfred Weiss nach Mailand, um die dortigen Espresso-Bars in Hinblick auf ihr Erscheinungsbild und auf die Abwicklung des Service genau unter die Lupe zu nehmen. Denn ein halbes Jahr später sollte schon das gemeinsame Projekt von Haerdtl und Weiss, das Espresso Arabia am Kohlmarkt, in der Wiener Innenstadt eröffnen und italienische Genuss- und Lebensfreude in die vom Krieg zerstörte und gezeichnete Stadt bringen. Alfred Weiss hatte die Shoah gemeinsam mit seiner Frau in Rom überlebt, bereits 1947 waren sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hatten sich ihre „arisierte“ Firma „ARABIA Kaffee-Tee-Import“ zurückerkämpft. Mit dem Lokal am Kohlmarkt wollte Weiss seiner Marke erneute Präsenz und Bekanntheit verschaffen. Oswald Haerdtl hatte während des Krieges auch für die Nationalsozialisten gearbeitet. Welche Beziehung Haerdtl und Weiss zueinander hatten, und wie Weiss mit dessen Verhalten umging, ist nicht bekannt, da nur Geschäftsbriefe erhalten sind. Ein Brief des Architekten an den Grafiker Josef Binder, der für Arabia bereits in den 1930er-Jahren eine Corporate Identity entwickelte, zeugt vom Respekt, den er Weiss entgegenbrachte: „Herr Weiss ist, wie Sie wissen, außerordentlich rührig und man muss schon sagen, er ist einer der wenigen Leute in Wien, die etwas für den Fortschritt tun.“


Belegt ist die Recherche-Reise des Arabia Mitarbeiters Ewald Emig nach Mailand durch einen Brief, in dem Haerdtl genaue Anweisungen gab, auf welche Details er bei welcher Bar achten sollte. Wie die Reise für Emig genau ausgesehen hat, wissen wir heute nicht. Von den zehn der nicht immer namentlich bezeichneten Bars kann man heute noch zumindest drei besuchen: Das Motta und das Biffi, beide in der Galleria Vittorio Emanuele II in unmittelbarer Nähe des Mailänder Doms, und die Bar Tre Gazelle am Corso Vittorio Emanuele II.

Das eine oder andere Detail sollte in ähnlicher Form auch im Arabia am Kohlmarkt übernommen werden. So das Kassiersystem bei Motta, das erstaunlich modern wirkt: Bezahlung und Abholung des Bestellten erfolgten an zwei verschiedenen Orten im Lokal – ganz ähnlich wie bei der heutigen international agierenden Kaffeehauskette mit dem Sirenen-Logo. Tatsächlich fand auch das dort gängige und dadurch international bekannt gewordene Service-System in den 1980er-Jahren seine Inspiration in Mailand, nur eben 30 Jahre später. Bei Motta gab es im Obergeschoss auch einen Bereich, in dem die Kunden bedient wurden – und das war von besonderem Interesse für Haerdtl und Weiss: Sie kannten ihr Wiener Publikum und wussten, dass eine italienische Bar ohne die vertraute Gemütlichkeit nicht von Dauer sein könnte. So planten sie von Beginn an einen „Restaurant“-Teil zum Verweilen. Unklar war ihnen jedoch, wie sie die Verrechnung von Bestellungen in diesem Bereich von Produkten aus der Espresso-Zone am besten umsetzen sollten und wollten wissen: „Wie macht das Motta?“





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© Jüdisches Museum Wien




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© Jüdisches Museum Wien
Vom Biffi ließen sie sich zur „verkehrten“ Aufstellung der Espresso-Maschinen inspirieren. In Italien stehen die Maschinen traditionellerweise mit der Front zu den Gästen, nicht so beim Biffi, und so auch nicht im Café Arabia und anderen österreichischen Kaffeehäusern. Als „besonders hübsch“ beschreibt Haerdtl die dortigen WC-Anlagen und er empfiehlt Emig sich diese anzusehen: „Sie werden überrascht sein, wie schön sie ausgestattet sind.“ Heute ist leider jeder Charme verloren gegangen.

In der Bar Tre Gazelle war die von Haerdtl hervorgehobene Besonderheit, dass der „Kaffeekoch die Getränke selbst ausgibt, also ohne Zwischenpersonal“ – heute bekommt man dort Eisvariationen zum Sitzplatz serviert.

Der Brief endete im November 1950 mit den Sätzen: „Ich würde Ihnen empfehlen, daß Sie das gleich schriftlich festhalten. Ich würde nämlich fast alles vergessen, wenn ich es mir nicht notiere.“ Diese Aufzeichnungen sind heute nicht mehr erhalten – oder Ewald Emig hatte sich alles gemerkt und die Mailänder Bars ohne Notizen beforscht und genossen. Mit dem Café Arabia wurde jedenfalls Einiges an Italianità nach Wien importiert – davon können Sie sich in der Ausstellung „Endlich Espresso. Das Café Arabia am Kohlmarkt“ ein Bild machen.


Quellen:
Sabine Apostolo, Michael Freund (Hg.): Endlich Espresso! Das Café Arabia am Kohlmarkt. Wien 2022.
Adolph Stiller (Hg.): Oswald Haerdtl: Architekt und Designer, 1899-1959. Salzburg 2000.