20. January 2021
Vienna and the World

Between Vienna and Shanghai

by Hannah Landsmann
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In unserer Ausstellung „Die Wiener in China" zeigen wir unseren Besucherinnen und Besuchern Leihgaben, die von Wiener Familien für die Ausstellung zur Verfügung gestellt worden sind. Es sind jene Familien, die 1938 in Shanghai Zuflucht gefunden hatten. Insgesamt haben wir fast 900 Objekte ausgestellt. In dieser Ausstellung sollte die Auswahl der Objekte, die als Erzählerinnen und Erzähler auftreten, am besten bei unseren Gästen liegen. „Ich seh’, ich seh’, was Sie nicht sehen …“ könnte in jedem Raum nur ein Objekt in den Fokus nehmen? Das beliebte Kinderspiel gegen Langeweile hat mir persönlich schon in vielen Ausstellungen wunderbare Dienste geleistet und meinen Blick auf kleine Dinge und ihre Geschichten enorm geschärft. Ich darf Ihnen in diesem Beitrag das Ehepaar Ernst und Edith Grauaug vorstellen.

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Foto © JMW
 
Das Free Austrian Office war eine in den 1940er-Jahren gegründete Vereinigung, die sich die Unterstützung von österreichischen Flüchtlingen zur Aufgabe gemacht hatte. Die Ausweise berechtigten zu nichts, sollten ihren Inhaberinnen und Inhabern aber ein Gefühl der Zugehörigkeit geben. Der Gründer dieses Austrian Office dürfte ein Monarchist gewesen sein, der merkwürdige Adler trägt eine Krone und einen Lorbeerkranz. Mitglieder waren nicht Mitglieder, sondern österreichische Untertanen. Wie sich wohl Ernst Grauaug, dessen Ausweis in der Ausstellung zu sehen ist, fühlte?
 
Foto © JMW
 
Seine Frau Edith, die ihn ins chinesische Exil begleitete, hatte diese Puppen in Shanghai erworben – ob sie sie gekauft hatte oder geschenkt bekam, ist nicht mehr eruierbar. Der ehemalige Theaterdirektor arbeitete in Shanghai in einer Bar als Pianist, Edith als Sängerin. Sie lernte hier einen Amerikaner kennen, dem sie in seine Heimat folgte. Ernst blieb allein in Shanghai, bis er nach Wien zurückkehrte und sich mit einem Job in der amerikanischen Botschaft über Wasser halten konnte.
 
Foto © JMW
 
Die Essstäbchen aus Elfenbein hatten die Grauaugs wohl noch für den gemeinsamen Haushalt gekauft oder als Geschenk erhalten. Auch dieses Detail behält das Objekt für sich. Welche Gedanken Ernst Grauaug durch den Kopf gingen, als er sie in Shanghai ein- und in Wien wieder auspackte, ist ebenfalls nicht überliefert. Eine Freundin seiner zweiten Frau hat dem Jüdischen Museum Wien im Jahr 2014 eine Schenkung überlassen, die Fotos und Dokumente zu Edith und Ernst Grauaug und seinen Eltern beinhaltet. „Essstäbchen“ als Suchbegriff in das Inventar des Museums einzugeben, wäre mir, ehrlich gestanden, ohne diese Ausstellung noch länger nicht in den Sinn gekommen.
 
Foto © JMW
 
Edith Grauaug begrüßt das Publikum der Ausstellung von einer Rikscha aus. Sie lächelt uns vom Plakat aus an und es scheint, als würde sie uns sagen. „Kommen Sie ruhig näher und schauen Sie sich um.“ Sie hat gute Laune, ist frisch frisiert und wahrscheinlich dezent geschminkt. Ihr Künstlername in Shanghai war Beer Barrel Songbird. Wenn sie gerade nicht gesungen hat, schenkte sie Bier aus. Das Foto drückt Selbstbewusstsein aus.
 
Foto © JMW
 
In der Schenkung enthalten ist ein Konvolut von Fotos, das die Eltern von Ernst Grauaug zeigt, die in der Ausstellung keinen Auftritt haben. Der aus Wien gebürtige Vater von Ernst, Ludwig Grauaug, war Intendant eines Theaters in Stuttgart, man sieht ihn in dieser Aufnahme aus dem Jänner 1933 an einem Schreibtisch sitzen, womöglich in seinem Büro. Seine Frau Ida Sykora, Ernsts Mutter, war Opernsängerin und ist auf einem Foto auf einem Balkon in Arosa zu sehen, vielleicht ein Hotel? Auf die Rückseite hatte sie „Meinem Burschi“ und „Mama“ geschrieben – am 8. September 1928.
 
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Foto © JMW
 
Oft schließen sich die durch die Geschichte gerissenen Lücken nicht, auch wenn Menschen ihre Erinnerungen in Gestalt von Objekten, Fotos oder Archivalien einem Museum überlassen. Auf diese Lücken, die manchmal größer und manchmal kleiner sind, stößt man sowohl in der Dauerausstellung „Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute“ als auch in den Wechselausstellungen des Jüdischen Museums Wien. In Workshops mit Schülerinnen und Schülern wurde das schon oft diskutiert, die jungen Leute nehmen den Mangel an Wissen und Information recht gelassen hin. Ein guter und kluger Kommentar dazu war, dass das ausgestellte Objekt jedenfalls eine Geschichte hat, auch wenn die Leute im Museum sie nicht eruieren konnten.
 
Foto © JMW
 
Titelbild © JMW