Wenn man die Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 betritt, steht man als erstem Kunstwerk der Skulptur Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht gegenüber. Wie manches in dieser Ausstellung ist auch deren Geschichte alles andere als gewöhnlich. Eigentlich belegt schon ihre schiere Existenz ein Wagnis.
 
Ihre Schöpferin, die aus einer wohlhabenden, wahrscheinlich adeligen Familie stammende russische Bildhauerin Teresa Feodorowna Ries, hatte bereits einiges hinter sich, als sie ihren Berufswunsch verwirklichen konnte: Sie war sehr jung verheiratet worden, hatte ein Kind bekommen und wieder verloren und war bald darauf auch schon geschieden. Eine Aufnahme an der Moskauer Kunstakademie hatte sie sich zuerst unter Vorspiegelung einer künstlerischen Vorbildung erschlichen, um dann, obwohl erfolgreich und mit Schulpreisen überhäuft, wegen vorlauten Verhaltens verwiesen zu werden. Dank ihrer reichen Eltern konnte sie nach Wien übersiedeln und sich hier einen Lehrer suchen, den sie in Edmund von Hellmer fand. Er unterrichtete an der hiesigen Akademie, an der die Ries als Frau allerdings nicht studieren durfte. Hellmer nahm sie als Privatschülerin an – eine verbreitete Praxis, die den Professoren ein schönes Zubrot bescherte, solange die Akademie Frauen als Studentinnen nicht akzeptierte.
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Fotoportrait von Teresa Feodorowna Ries, aus: Carlo Malagola, Una scultrice russa. Teresa Feodorowna Ries, in: Ars et Labor. Musica e musicisti. Revista mensile illustrata, Nr. 7, Juli 1906.
 
Über die Entstehung der Hexe schreibt die Künstlerin in ihrer 1928 erschienenen Autobiografie. Wir erfahren, dass sie sich eben in der Akademie-Aula von den Abgüssen antiker Figuren inspirieren hatte lassen, als sie auf einer dunklen Stiege über einen Besen stolperte. Anstatt sich darüber zu ärgern, assoziierte sie den Besen mit den eben noch bewunderten Händen und Füßen der Skulpturen und kam so auf eine Idee: „Ah, eine Hexe mit einem Besen, sich rüstend zur Walpurgisnacht! Eine Hexe, die bezaubert und verzaubert, die Macht über Menschen hat!“ Schließlich führte sie ihr Vorhaben nach einem Akademiemodell aus, einer jungen Frau namens Anna Faust.
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Teresa Feodorowna Ries, Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht, 1895; heute im Wien Museum.
 
Die Hexe wurde in der Frühjahrsausstellung 1896 im Künstlerhaus zum Skandal: „Als ich am Firnistage in die Ausstellungshalle kam, um die Aufstellung meines Werkes zu besichtigen, wurde ich gleich beim Eingang von einer Anzahl Kollegen stürmisch begrüßt. Irgendjemand nannte dabei laut meinen Namen, und im selben Moment erscholl von der Stiege, die in den Saal hinaufführte, eine donnernde Stimme: ‚Das ist die Ries?! Man sollte ihr den Eintritt verbieten. Wie kann sie sich unterstehen, aus einem edlen Marmor eine so scheußliche Fratze zu machen?!‘“
 
Was hat die Kollegen und die Kunstkritiker so erbost? Nun, man(n) war es nicht gewöhnt, den Ausstellungsraum mit Werken von Kolleginnen zu teilen. Frauen hatten es im 19. Jahrhundert ja sehr viel schwerer, Künstlerinnen zu werden. Die Fähigkeit zum plastischen Denken wurde ihnen zudem generell abgesprochen. Und dann kam eine daher und bewies das Gegenteil! Zur unerhörten Selbstermächtigung kam das Sujet: Ries’ Hexe ist kein liebliches, fügsames ‚Fräulein‘. Sie ist eine ungezähmtes, wildes Geschöpf, nackt und mit einem sehr besonderen Gesichtsausdruck, den Ries’ Bewunderer Stefan Zweig so beschreibt: „[…] das lüstern-erwartungsvolle Lächeln, das von den teuflischen Orgien träumt, die Sinnlichkeit, die sich kaum zurückhalten läßt, eine schwüle, verwirrende, satanistische Stimmung verwirklicht sich alles in dieser einen Gestalt.“
 
Doch die Zeit war wohl reif für eine Ries. Die junge Russin wurde mit der Hexe zur Berühmtheit. Es wurde schick, sich von ihr portraitieren zu lassen.
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Teresa Feodorowna Ries in ihrem Atelier mit Mark Twain, um 1898, aus: Teresa Feodorowna Ries, Die Sprache des Steins, Wien 1928.
 
Bald durfte sie ihre Werke auch in der Secession ausstellen, was die Anerkennung selbst der Avantgarde von Wien um 1900 belegt. Stefan Zweig war 1902 voll des Lobes und der Hoffnung: „Sie kann für die Plastik vielleicht noch das Gleiche werden, was Charles Baudelaire für die Literatur bedeutet.“ Trotzdem wurde auch sie immer wieder von frauenfeindlichen Vorurteilen eingeholt und selbst diese starke Frau kränkte es, als Künstlerin beiseitegeschoben zu werden: „Konkurrenzneid auf eine Frau, die sich angemaßt hatte, die Theorie von der ‚Überlegenheit‘ der Männer auf den Kopf zu stellen! […] Gräßliche Stimmung packte mich. Meine Arbeiten, die Früchte jahrelangen Schaffens, konnte ich nicht ansehen. […] Mir war, als ob meine Seele erdrosselt würde.“
 
War es viele Jahre lang die eklatante Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb, die der Ries wie allen übrigen Künstlerinnen in Wien zu schaffen machte, so sorgten ab 1938 die Nationalsozialisten dafür, dass ihr Beitrag aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurde. Teresa Feodorowna Ries flüchtete in die Schweiz. Ihr Werk ist großteils verschollen oder zerstört, ihre außerordentliche Geschichte wurde vergessen.
 
 
 
Die Ausstellung Die bessere Hälfte. Jüdische Künstlerinnen bis 1938 ist noch bis 1. Mai im Museum Dorotheergasse – Palais Eskeles zu sehen.
 
Ein kurzes Stimmportrait aus 1906 von Teresa Feodorowna Ries ist hier zu hören.
 
 
 
Titelbild aus: Teresa Feodorowna Ries, Die Sprache des Steins, Wien 1928.