14. Juni 2023
Unter der Lupe

Unser Regenbogen-Tallit

von Jüdisches Museum Wien
© Lukas Pichelmann
Das Anlegen des Gebets-Mantels (Tallit) und der Gebetsriemen (Tefillin) während des Morgengebets gehört zu den  Jahrtausende alten, auf die Tora zurückgehenden Riten  des Judentums. Doch während im traditionellen Judentum der Tallit nur von Männern getragen wird, da die Frauen von zeitgebundenen religiösen Pflichten entbunden sind, gibt es heutzutage immer mehr Frauen aus liberalen, konservativen und teils auch orthodoxen Gemeinden, die es als ihr Recht ansehen, einen Gebetsmantel zu tragen.

Der von Zalman Schachter-Shalomi, dem Begründer der Jewish renewal Bewegung, entworfene Regenbogen-Tallit wurde anlässlich der Kabbala Ausstellung vom Jüdischen Museum angekauft. Er widerspiegelt die Verankertheit des Künstlers in der jüdischen Tradition und seine tiefschürfende Beschäftigung mit der jüdischen Mystik als auch die aktuelle Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Veränderungen. Sein Regenbogen-Tallit war inspiriert von der Vorstellung des göttlichen Lichtgewandes, die auf Psalm 104,2: „Du hüllst dich in Licht wie in einen Mantel“ zurückgeht. Die Anordung der einzelnen Farbstreifen entspricht den Farben der unteren sieben Sefirot (göttlichen Emanationen) und den sechs Schöpfungstagen sowie der Erde. Während die oberen drei Sefirot: Keter, die Quelle des Lichts, und Hochma mit Bina weiß sind, entspricht der vierten Sefira – Hessed – der purpurne Streifen, der fünften Gewura – der blaue, Tiferet - der grüne, Netzach - der gelbe und Hod - der orangefarbene Streifen. Jessod erhält den roten Streifen, der den sechsten Schöpfungstag, an dem die Säugetiere erschaffen wurden, symbolisiert, wobei die Farbe Rot für Blut steht. Die letzte Sefira: Malchut, verkörpert die Erde und ist durch einen braunen Streifen ausgedrückt.

Da sich die Jewish renewal Bewegung von Beginn an für die Rechte von homosexuellen und transgender Personen (LGBT) einsetzte, bekamen mit der Entstehung der jüdischen LBGT-Bewegung die Regenbogenfarben im Tallit eine zusätzliche symbolische Bedeutung als Ausdruck der Jewish pride.

Bis heute vereinen Jewish renewal Gemeinden Neochassidismus und Kabbala mit gesellschaftspolitischem Engagement. Neue Sichtweisen auf traditionelle Gebote sollen zur Verbesserung der Welt (Tikun olam) beitragen, wobei ethische und ökologische Standards gepaart mit Meditation, Yoga und Sufi-inspirierten Gesängen die Bewegung zu einer kreativen Kraft im zeitgenössischen Judentum werden ließ.