25. Juni 2024
Aktuelles

Eröffnungsrede "Die letzten Tage der Demokratie"

von Hannes Sulzenbacher
© Ouriel Morgensztern

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende, natürlich kann man und wird man gleich sagen, was für eine Übertreibung, was für ein Alarmismus, das hören wir doch jetzt die ganze Zeit, wo wären denn die wirklichen Anzeichen für ein Ende der Demokratie?

Ja, vielleicht ein Ende der großen Erzählungen vom Frieden, vom sozialen Ausgleich, von den humanistischen Werten, von der zivilen Teilhabe am demokratischen Prozess, von der Gleichberechtigung der Menschen, vom Recht auf Asyl, vom Minderheitenschutz, der Meinungs- und Medienfreiheit und vom Ausbau der Menschenrechte. Wir hören, damit hat man ja übertrieben, das sind doch unzeitgemäße Flausen geworden, wir müssen die Ideale unserer Gegenwart anpassen. Aber das ist noch lange nicht das Ende der Demokratie! Und in der „Illiberale Demokratie“, da steckt doch die Demokratie doch auch schon im Namen!

Nein, eine illiberale Demokratie gibt es nicht, die kann es nicht geben. Es kann sie auch nicht geben, wenn sich eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler dafür ausspricht und eine Regierung mit der Macht ausstatten möchte, sie zu implementieren und zu exekutieren. Denn Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Vielfalt und Pluralismus sind essentielle Bestandteile einer Demokratie. Und wenn die Herren und Frauen der neuen Rechten es noch hundertmal behaupten, ihre demokratiefeindlichen Aussagen werden nicht dadurch demokratisch, dass sie sie eben sagen dürfen. Und sie dafür zu kritisieren ist nicht undemokratisch, sondern es ist eben erst recht demokratisch. Es ist sogar noch demokratisch, wenn wir es ihnen untersagen, wenn wir sie dafür vor Gericht stellen und ins Gefängnis schicken, wenn wir ihre Bewegungen und Parteien verbieten. Joseph Goebbels schrieb: „Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde.“

Aber wollen wir diesen Witz wirklich noch einmal erzählen? Will man nicht und stellt sich deshalb die Frage, wie es denn so weit kommen konnte. Woran liegt es denn, dass so Viele den Wert der demokratischen Errungenschaften in Frage stellen? Oft hört man, dass es die Visionslosigkeit der Linken ist, ihre Erschöpfung, den Abwertungsnarrativen etwas entgegenzusetzen, die Selbstaufgabe der sozialdemokratischen Parteien auf dem Dritten Weg, ihr zweitklassiges politisches Personal usw. – kurz: die Linken sind an den Rechten schuld. Ich glaube das nicht. Vielmehr ist es die Verrohung der bürgerlichen Parteien, ob sie nun Republikaner, CDU oder ÖVP heißen, die den ganz Rechten die Tür geöffnet haben und die „die Grenzen des Sagbaren ausgeweitet“ haben, wie es der seinerzeitige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland als eines der obersten Ziele einmal formulierte. Die Parteien, die früher einmal bürgerliche Mitte hießen, sind heute nur mehr der Hund, der den Rechtsextremisten das Stöckchen ihrer Sprache apportiert und den Millionären den Fressnapf der Armen. Doch noch einmal: ist dies Grund genug, die Zerstörer der Demokratie an die Macht zu wählen?

Natürlich haben Viele den Eindruck, dass die politische Klasse die großen Probleme der Welt nicht mehr beherrscht und dass die herrschende Klasse das sehr wohl tut – und wenn dies auch zum Weltuntergang führt. Ja, es wird nichts mehr dagegen getan, dass die Reichen immer reicher werden, dass die Armen immer ärmer werden, dass die Reichen immer absurder reich werden und dass die Armen immer absurder arm werden. Es wird nichts dagegen getan, dass der Planet zugrunde geht. Es wird nichts dagegen getan, Migrationsströme als etwas Positives zu begreifen auf einem Kontinent, dessen Bevölkerung schrumpft und überaltert. Es wird auch nichts dafür getan, diese Migrationsströme positiv zu nutzen. Diskriminierung von Frauen und von Minderheiten, Antisemitismus und Rassismus – all dies wurde zum Sprachspiel degradiert, als ob korrekte Benennung ein korrektes Leben ermöglichen würde.

Was wir wahrnehmen, ist eine weltweite Entwicklung. Und ich glaube, sie ist mit dem Obigen nicht ausreichend beschrieben bzw. ist all das nur die Vorbedingung für etwas Anderes: Es ist die Lust am Systembruch. Zornig und frustriert werden die Standards beiseitegeschoben, nein vielmehr, unter Applaus auf den Müll geworfen. Man muss plötzlich Standards wie das Recht auf Asyl, Werte des Zusammenlebens, ja, jetzt sogar das Recht auf Abtreibung wieder öffentlich diskutieren, als ob daran zu rütteln wäre. Aber es wird gerüttelt, und es wird mit Erfolg gerüttelt. Die Grenzen des Sagbaren werden täglich weiter verschoben – und mit ihnen die Grenzen des Machbaren. Selbst die Androhung von Gewaltmaßnahmen ist wie selbstverständlich in den Alltag zurückgekehrt. Und wussten Sie, dass bei großen FPÖ-Veranstaltungen jetzt immer ein Messerschleifer dabei ist, bei dem man gratis seine mitgebrachten Messer wieder scharf bekommt?

Überall kämpfen sich Parteien an die Spitze, die mehr oder weniger öffentlich Empathielosigkeit und Verrohung im Programm haben, ja, die Menschenrechte und Empathie zusehends als Teil des Systems bezeichnen, jenes Systems, das man eben beiseitefetzen will. Das sind dann eben die Kollateralschäden des Systembruchs oder vielmehr die Kollateralprofite des rechten und des rechtsradikalen Populismus.

Und hier, im Jüdischen Museum, sei noch etwas erwähnt: nicht nur die neue Lust am Systembruch, sondern seit dem 7. Oktober 2023 auch die neue Lust am Antisemitismus. Auch hier ist dieser Systembruch immanent, Empathie für die Jüdinnen und Juden – alles Schnee von gestern. Die antisemitische Wucht, die sich seit dem Massaker der Hamas eruptiv entwickelt hat, ist und war für uns alle spürbar – und das lag nicht nur am dramatischen Rückgang von Besucher:innenzahlen – notabene nach dem 7. Oktober, nicht nach dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen. Das „Judenblut“, das dort „vom Messer gespritzt“ ist, hat auch hierzulande Gefühle freigesetzt – und nicht nur solche von Abscheu und Zorn, sondern auch solche von stillem Einverständnis und dem befreienden Windhauch, wenn eine Tür wieder aufgestoßen wurde, die lange zugedrückt war. Und wieder wird die Diskussion zum Spiel der politischen Abwertung: in welcher politischen oder religiösen Gruppe sind wie viele antisemitisch, lautet die Frage, und dahinter steckt eben keine Empathie den Jüdinnen und Juden gegenüber, sondern nur die persönliche Abneigung und Abwertung der jeweiligen Gruppe.

Aber Sie werden sich fragen: wenn das Schiff der Demokratie sinkt, warum sind denn dann die Ratten noch an Bord?

2014 schuf die österreichische Künstlerin Deborah Sengl eine gewaltige Ausstellung, die im Essl-Museum in Klosterneuburg zu sehen war. Sie verwandelte Szenen aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus in genau das, was Kraus wollte: überzeitliche Metaphern für das Versagen, die Schlechtigkeit und die Hilflosigkeit von Menschen. Ratten werden nun von Manchen als ekelhaft, von Anderen als putzig empfunden, also nicht anders, wie wir auch unser Urteil über Menschen fällen. Deborah Sengls Szenen schaffen damit aber auch gleichzeitig Nähe und Distanz. Wir, also Barbara Staudinger, Tom Juncker und ich haben gemeinsam mit Deborah Sengl 16 Szenen aus den vorhandenen 44 ausgewählt und sie sozusagen dort der Geschichte entkleidet, wo sie dem Befund unserer Gegenwart im Weg gestanden wäre: wir haben Szenen herausgenommen, die sich direkt auf den Ersten Weltkrieg beziehen und andere mehr. Ausgesucht haben wir solche, die sich unmittelbar auf unsere Gegenwart beziehen lassen – und wir haben ihnen Überschriften gegeben, die sie noch mehr im Hier und Jetzt verankern. Es zeigte sich dabei nicht nur, wie sehr die erwähnte Überzeitlichkeit im Werk von Deborah Sengl immanent ist, sondern auch was für gute Schauspieler die Ratten sind.

Was mich zum Stücktext bringt: Denn die Frage war natürlich, wie werden aus den letzten Tagen der Menschheit letzte Tage der Demokratie – und wir suchten eben nicht nach einer weiteren metaphorischen Ebene, sondern nach einer handfesten und gut verständlichen. Die Lösung liegt wie so oft in der Radikalität: wir haben Lydia Haider gefragt, ob sie Text, Dialog, Sprache zu den Rattenszenen schreiben würde, und – ich muss sagen, man bekommt selten so schnell eine Antwort, in der auch noch steht: ich kenne Sengls Rattenszenen, ich liebe Sengls Rattenszenen, ich machs! Und unsere Frage natürlich, welche poetische Sprache der Gegenwart könnte eben diese Gegenwart beschreiben? Auch dafür erwies sich Radikalität als die Lösung. Denn wenn die Ratten Lydia Haiders Texte deklamieren, so tun sie das voller feinsinniger Poesie oder vielmehr sie würden gerne. Sie möchten schön sprechen wie bei Kraus oder bei Shakespeare, es gelingt ihnen aber nicht, Wut, Zorn und Verzweiflung übernimmt ihren schönen Duktus und Fäkales, Rotziges und Hinterfotziges kämpft sich nach oben und nach außen, Gebrochenes und Erbrochenes fliegt zwischen den schönen Wörtern herum.

Am Ende des Projekts bleibt Ratlosigkeit, was zu tun ist, um das Ende der Demokratie abzuwehren. Sind demokratische Mittel noch geeignet, wenn ein Drittel der Bevölkerung nicht wählen darf und vom Rest nur die Hälfte wählen geht?

Ja, am Ende des Projekts bleibt auch das gute Gefühl, ein paar Quadratmeter des Globus engagiert gestaltet zu haben und dem Publikum des Jüdischen Museums Wien eine mahnende Wahlkabine vorgesetzt zu haben. Und wenn wir uns nun selbst beschuldigen, damit natürlich genau nichts erreichen zu können, dann haben wir auch nichts erreicht.

Ja, am Ende bleibt Wut, dass wir überhaupt solche Ausstellungen machen müssen. Wie weit sind wir denn gekommen?

Ja, nichts ist okay.