19. Juli 2024
Aktuelles

In memoriam: Dr. Ruth Westheimer (1928 - 2024)

von Daniela Pscheiden
© JMW
Ruth Westheimer habe ich den amüsantesten und lehrreichsten Zoom Call meiner bisherigen Berufslaufbahn zu verdanken. Im Zuge der Vorbereitungen zur Ausstellung „Love me Kosher. Liebe und Sexualität im Judentum“ (JMW, 2022) hatte das Kuratorinnenteam ein Online-Meeting mit der großartigen Dr. Ruth vereinbart. Wir waren schon sehr aufgeregt, endlich mit ihr sprechen zu können und sollten auch nicht enttäuscht werden. Sie begrüßte uns aus ihrem New Yorker Apartment und kaum hatten wir die erste Frage gestellt, legte sie auf ihre unnachahmliche Art los. Nach einigen Hinweisen zur Wichtigkeit von erfüllender Sexualität im Judentum erklärte sie uns anhand praktischer Beispiele aus ihrem reichen Erfahrungsschatz in der Sexualberatung, was damit gemeint war. Wörter wie Orgasmus, Klitoris, Penetration und vieles schallten aufgrund der offenen Tür zum Arbeitszimmer nunmehr durch unser ganzes Büro. Immer mehr Kolleg:innen kamen näher, um zu sehen bzw. besser gesagt zu hören, was da wohl vor sich ginge. Dr. Ruths positive Art, ihre Offenheit und Begeisterung für das Thema brachte uns zum Lachen, zum Nachdenken und bescherte nicht wenigen Lauschern rote Ohren. Viel von dem, was wir von ihr erfuhren, konnten wir für unsere Ausstellung verwenden. Gleichzeitig konnten wir mit ihr gemeinsam eine erweiterte und deutsche Fassung ihres Bestsellers „Heavenly Sex“ – „Himmlische Lust. Liebe und Sex in der jüdischen Kultur“ herausgeben; das hatte sie sich schon lange gewünscht.

Wenn man Ruth Westheimer in ihrer ganzen quirligen und positiven Art erlebt hat, ist es kaum zu glauben, was für ein tragisches Schicksal sie meistern hatte müssen. Als Karola Ruth Siegel am 4. Juni 1928 geboren, wuchs sie als Einzelkind in Frankfurt am Main auf. 1938 konnten ihre Eltern sie mit einem Kindertransport in die Schweiz in Sicherheit schicken, während sie beide im Holocaust ermordet wurden. Nach dem Krieg wanderte Karola Ruth Siegel nach Palästina aus, wo sie bei der zionistischen Untergrundorganisation Hagana als Scharfschützin ausgebildet wurde. Sie arbeitet zunächst als Kindergärtnerin und studierte später Psychologie an der Pariser Sorbonne. An der Columbia University absolvierte sie ab 1956 ein Soziologiestudium und schloss ihre Studien mit einem PhD in Pädagogik ab. Sie war bis zu seinem Tod 1997 in dritter Ehe mit Manfred Westheimer, der wie sie vor dem NS-Regime aus Deutschland flüchten musste, verheiratet und hatte eine Tochter, Miriam, und einen Sohn, Joel.

Der Verlust ihrer Herkunftsfamilie belastete sie schwer. Als sie erfuhr, dass es einen Cousin in Australien geben sollte, nahm sie sofort mit ihm Kontakt auf. Das, was sie unbedingt von ihm wissen wollte, war, ob er auch so klein wie sie sei - Ruth Westheimer war nur 1,44 m groß. Wenn ja, wäre es ein Familienmerkmal und nicht auf die traumatischen Erfahrungen während der NS-Zeit zurückzuführen.

Berühmt wurde sie mit ihrer Radiosendung „Sexually Speaking“, die ab 1980 von New York aus die ganze USA eroberte. Ihre offenherzige Art, Ratschläge zu erteilen und die Dinge beim Namen zu nennen, bescherten „Dr. Ruth“ großen Erfolg. Sie wurde ein beliebter Gast bei Talkshows im Fernsehen und schrieb 1983 das erste ihrer mehr als 40 Bücher. Das Aufkommen von AIDS in jener Zeit machte es notwendiger denn je, über Sexualität zu sprechen; „[…] am besten so wie wir über das Essen sprechen!“ war ihr Wunsch. Sie sprach sich auch zeitlebens für die Anerkennung der Rechte der LGBTIQ* Community und für das Recht auf Abtreibung aus. Dies, ihre direkte Art über Sex zu sprechen und den Lustgewinn als essentiell für eine zwischenmenschliche Beziehung anzusehen, gerade auch für gläubige Juden und Jüdinnen, brachte ihr zeitweise heftigen Gegenwind ein. Viele Tabuthemen wie Sex im Alter oder Missverständnisse über „jüdische“ Sexualität griff sie auf. Während sie Senior:innen das Liebesspiel idealerweise morgens nach einer gut verbrachten Nacht nahe legte, wusste sie auch mit Humor einem der bekanntesten Missverständnisse zu begegnen: Auf unsere Frage, wie es ihrer Meinung nach zu dem Vorurteil gekommen sei, das jüdische Paar angeblich nur durch ein Leintuch mit einem Loch darin Sex hätten, meinte sie: „Woher das kommt mit dem Leintuch, keine Ahnung. Vielleicht gab es mal einen Rabbi, der das Leintuch benützt hat, wer weiß. Wem das gefällt, der nimmt halt ein Leintuch und tut`s nachher waschen, wem es nicht gefällt, der ignoriert`s halt und lässt es bleiben.“

Wir, das Team des Jüdischen Museums Wien, werden sie stets als herausragende Persönlichkeit, nicht nur wegen ihrer Verdienste um die sexuelle Aufklärung sondern auch aufgrund ihres Humors und ihrer positiven Einstellung zum Leben in dankbarer Erinnerung behalten.