28. April 2025

80 Jahre Kriegsende: Woran wir uns erinnern und was verdrängt wurde

von Barbara Staudinger
© Ouriel Morgensztern
Jahrestage und Gedenkjahre sollten eigentlich nicht nur Anlässe offizieller Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen sein, vielmehr ermahnen sie uns zum Innehalten und Nachdenken: über das Ereignis, dem gedacht oder das gefeiert werden soll, über die Form des Erinnerns und auch, was vielleicht in diesem Zusammenhang gar nicht so gerne in Erinnerung gerufen wird. 2025 gedenken wir dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor achtzig Jahren und der Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime. Gedenken wir aber auch dem damit verbundenen Versprechen des „Nie wieder?“ Erinnern wir uns gleichzeitig auch an die begeisterten Massen, die die Deutsche Wehrmacht und schließlich auch Adolf Hitler in den Tagen nach dem 12. März 1938 in Österreich umjubelten? Und vergessen wir über der Freude vielleicht allzu gerne, dass eine Entnazifizierung in Österreich nur rudimentär stattgefunden hat, Nationalsozialist:innen schnell in hohe Funktionen zurückkehrten, Vertriebene nicht zurückgebeten wurden und Restitution und Entschädigung lange verweigert wurden?
 
Hinter die Befreiung und den damit verbundenen Neuanfang müsste man daher eigentlich ein Fragezeichen setzen – wie dies auch ERINNERN.AT in ihrem Jahresschwerpunkt getan hat. Und auch das Jüdische Museum Wien blickt kritisch auf die europäische und auch österreichische Erinnerungskultur und fragt in der Ausstellung „Sag mir, wo die Blumen sind? 80 Jahre nach dem Krieg – Fotografien von Roger Cremers“, die ab 8. Mai an unserem Standort Judenplatz zu sehen ist, was und vor allem wie erinnert wird und was verdrängt wurde. 
 
Die 2008 entstandene Fotostrecke „Auschwitz Tourist Behaviour“ des niederländischen Fotografen Cremers wurde mit Preisen ausgezeichnet, erinnert wird sie jedoch im Kontext des „Misbehaviours“, als Dokumentation von Tourist:innen, die sich in der Gedenkstätte unangemessen verhalten. Doch was bedeutet „unangemessen“? Wer gibt vor, welche Kleidung, Begleitung oder welches Verhalten angemessen ist und welches nicht? Cremers wertet in seinen Fotos nicht – und gerade deshalb lassen seine Bilder einen innehalten und werfen einen auf sich selbst zurück: Ist mein hartes Urteil gegenüber anderen denn angemessen für eine Gedenkstätte? Sollte ich mich nicht lieber mit meinen eigenen Vorurteilen kritisch auseinandersetzen als sie gerade im Kontext des Gedenkens zu pflegen?
 
Gedenken ist nicht nur eine individuelle, sondern eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Gedenken verändert sich und ist in Gefahr politisch instrumentalisiert zu werden. Es kann zur hohlen Geste verkommen und damit die Menschen nicht mehr erreichen, denen es daher vielleicht auch gar nicht widersprüchlich erscheint, am Wahlsonntag eine Partei der neuen Rechten gewählt zu haben und wenige Tage später dem 80. Jahrestag der Befreiung zu gedenken. Es wäre schon so lange her, hört man dann eventuell, und was haben wir heute damit zu tun. Wechseln wir die Perspektive: Schauen wir auf die Opfer des Nationalsozialismus, die traumatisierten Nachkommen Überlebender, den Antisemitismus in unserer Gesellschaft, der nicht nur bis heute anhält, sondern gerade im letzten Jahr eine neue Dimension erfahren hat, und schauen wir darauf, wie lange und teilweise bis heute sich Österreich auf dem Opfermythos ausgeruht hat und den Überlebenden und ihren Nachkommen Unrecht getan hat – dann sehen wir, dass wir in der unmittelbaren Gegenwart angekommen sind. Das alles hat daher etwas mit uns zu tun, mit unserer Gesellschaft, mit unserem Heute.
 
Die Geschichte kennt keinen „Neuanfang“, keine „Stunde Null“, aber sie kennt Veränderung. Veränderungen haben wir schon oft erfahren und auch wenn der Mensch Veränderungen meist kritisch gegenübersteht, sind Veränderungen nicht immer schlecht. Vielleicht können wir daher auch unser ambivalentes Verhältnis gegenüber Jahres- und Gedenktagen ändern und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was wir, jede und jeder Einzelne von uns, im hier und jetzt tun können, um das Versprechen, das mit der Befreiung gekommen ist – nie wieder Faschismus, nie wieder menschenverachtende und menschenvernichtende Politik, nie wieder Hass, Ausgrenzung und Verfolgung – auch wahr werden zu lassen. Und vielleicht sehen wir uns dann die klugen und feinfühligen Bilder Roger Cremers an und fragen uns, wie wir in Zukunft gedenken wollen.