08. November 2023
Unter der Lupe

…keine falsche Geschichte erzählen…

von Hannah Landsmann
© David Peters
Die im November 2002 im Jüdischen Museum Wien präsentierte Ausstellung „eine Nacht und ein Tag“ erzählte mittels einer eindrücklich deutlichen Chronologie, die auf die Wände der Ausstellungsfläche im 2. Stock gedruckt war, von den Geschehnissen in Wien, die sich vom 9. November 1938 bis zum 10. November 1938 ereignet hatten. Wann sich wer auf welche Weise das Leben genommen hatte und wann welche Synagoge in welchem Bezirk „ausgebrannt“ war, wie es in den Akten der Feuerwehr heißt, konnte hier nachgelesen werden. Verkohlte und verbeulte Objekte aus Wiener Synagogen und ein Ring, der im Ghetto in Theresienstadt für ein Stück Brot getauscht worden war, begleiteten diese Chronologie. Die von Felicitas Heimann-Jelinek kuratierte Ausstellung wurde von Martin Kohlbauer architektonisch umgesetzt.
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© JMW
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© David Peters

Die Ausstellung war gut besucht und sie wurde von etlichen Schüler:innen im Rahmen von Workshops wahrgenommen. Die Chronologie der 24 Stunden blieb als Instrument der Annäherung an unvorstellbare Ereignisse in unterschiedlichen Vermittlungsformaten über die Laufzeit der Ausstellung hinaus erhalten. Dass es sich in Wien nicht um eine „Kristallnacht“, sondern um einen „Kristalltag“ handelte, wurde aus den zeitlichen Angaben sofort klar. Etwas länger hat es gedauert, den Begriff „Kristallnacht“ oder „Reichskristallnacht“ in den österreichischen Schulbüchern durch Novemberpogrom oder Reichspogromnacht zu ersetzen.

Ende der 2010er Jahre waren die meisten Historiker:innen davon abgekommen, dass die Nationalsozialisten:innen diesen Begriff erfunden oder in Umlauf gebracht hätten. Man vermutet heute, dass der Volksmund dieses Wort geschaffen hätte und das Präfix „Reichs-“ einen ironischen Unterton anklingen hätte lassen sollen. Die Nazis schätzten wuchtige Ausdrücke sehr, besonders wenn sie die Vorsilbe „Reichs …“ enthielten. Seit den 1980er-Jahren herrschte im deutschsprachigen Raum aber auch die Auffassung, „Kristallnacht“ sei ein verharmlosender Begriff, der die Gräueltaten, welche an Jüdinnen und Juden in dieser Nacht und an diesem Tag verübt wurden waren, verharmlose. International ist weiterhin der Begriff „Kristallnacht“ in der Übersetzung „Night of the Broken Glass“ gebräuchlich, die internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem verwendet die Bezeichnung „Kristallnacht-Pogrom“. Der Schweizer Historiker und Präsident des Deutschen Historischen Museums Raphael Gross meinte 2018 im Deutschlandfunk dazu: „Persönlich habe ich das Gefühl, das Wichtigste ist, man weiß, worüber man spricht.“ (https://www.deutschlandfunk.de/nachgefragt-warum-ist-der-begriff-kristallnacht-verschwunden-100.html; 5.11.2023)

Im dritten Stock des Museum Dorotheergasse sind in der großen Mittelvitrine Objekte versammelt, welche aus Wiener Synagogen und Bethäusern stammen sowie aus den jüdischen Gemeinden in den Bundesländern. An der Vorderseite verweist der Schriftzug „Währinger Tempel“ auf den Standort der am 10. November 1938 um 12:35 Uhr „ausgebrannten“ Synagoge in der Schopenhauerstraße 39 im 18. Wiener Gemeindebezirk. Präsentiert wird hier auf einer Vitrinen-Etage verkohlter und verbeulter Tora-Schmuck. Im Rahmen eines Workshops für Volksschüler:innen, der nicht die Geschehnisse des 9. und 10. November 1938 zum Thema hatte, sondern den wunderschönen Tora-Schmuck und die jeweiligen hebräischen Begriffe, meinte ein Mädchen auf die Frage, warum denn diese Objekte nicht geputzt oder restauriert worden seien, dass das Museum dann eine falsche Geschichte erzählen würde. Ja, man muss wissen, worüber gesprochen wird. Die im dritten Museumsstockwerk präsentierte Schausammlung ist (auch für junge Gäste spürbar) ein Denk- und ein Mahnmal.

Die Erinnerung an das Novemberpogrom kann im Rahmen des Workshops „eine Nacht und ein Tag“ übrigens nicht nur im Monat November gebucht werden.