18. September 2023
Schaufenster

Schaufenster Nr. 3 - „Platzmachen für Gott“. Der Versöhnungstag

von Gabriele Kohlbauer-Fritz
© JMW / Stefan Fuhrer
„Dieser Tag ist nicht aus der Welt des Juden auszurotten und wird einst vor Gott stehen als sein ebenbildliches Geschöpf. Haß und Streitigkeiten lächeln eingesungen, müde störrische Kinder“, so die Dichterin Else Lasker-Schüler in ihrem Essay „Der Versöhnungstag“.

Jom Kippur, der Versöhnungstag, bildet den Höhepunkt der Feiertage zu Beginn des jüdischen Jahres. Vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels war es der einzige Tag an dem der Hohepriester das Allerheiligste betrat und den Namen Gottes aussprach: Dreimal während des Schuldbekenntnisses, einmal für sich, einmal für sein Haus und die Priester und einmal für ganz Israel. Zu den besonderen Sühneritualen des Versöhnungstages gehörte das Lose werfen über zwei Ziegenböcke. Der eine Bock wurde im Tempel als Sühneopfer dargebracht und der zweite wurde symbolisch mit den Sünden des Volkes Israels beladen in die Wüste geschickt.  Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels wurden die Opferrituale durch liturgische Rituale ersetzt. In allen jüdischen Gemeinden der Welt wird der Versöhnungtag seither mit Gebeten und Fasten verbracht. Fromme Jüdinnen und Juden kleiden sich oft weiß als Zeichen der Reinheit und des Bewusstseins um die eigene Sterblichkeit und sie tragen keine Lederschuhe, um an das Leiden der Tiere zu erinnern, die auch Geschöpfe Gottes sind. Der Versöhnungstag ist der feierliche Abschluss der Jamim Noraim, der erfuhrchtserweckenden Tage, zwischen Rosch haSchana (Neujahr) und Jom Kippur.

„Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Versöhnungstag wird besiegelt, wie viele dahinscheiden und wieviele geboren werden, wer leben soll und wer sterben, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit“, heißt in dem berühmten mittelalterlichen liturgischen Gedicht „U netane Tokef“, als dessen Verfasser Rabbi Amnon aus Mainz gilt und das auch Leonard Cohen zu seinem Song „Who by fire“ inspiriert hat. Laut einer talmudischen Legende (Talmud Joma VIII, 9) werden am Neujahrstag drei Bücher geöffnet: Das „Buch des Lebens“ für die Gerechten, das „Buch des Todes“ für die Frevler und ein Buch für diejenigen, deren Urteil noch nicht feststeht. Der endgültige Richtspruch wird noch bis zum Versöhnungstag aufgehoben. Durch „Rückkehr, Gebet und Wohltätigkeit“ haben die Menschen während der Jamim Noraim die Möglichkeit, zum rechten Weg zurückzukehren und ihr Schicksal zu beeinflussen, um doch noch in das „Buch des Lebens“ eingetragen zu werden. Da die meisten Menschen weder absolut gut noch absolut böse sind, sondern vielmehr im Graubereich dazwischen liegen, sind alle aufgefordert, ihre Sünden zu bereuen und Gott um Vergebung zu bitten. Allerdings befreit der Versöhnungstag nur von Sünden gegenüber Gott, Sünden von Mensch zu Mensch werden erst gesühnt, nachdem die geschädigte Person um Verzeihung gebeten worden ist. Daher ist es Brauch vor Beginn des Versöhnungsfestes alle Streitigkeiten mit anderen beizulegen und Unrecht, das man seinen Mitmenschen angetan hat, nach Möglichkeit wieder gutzumachen.

Der universelle Anspruch des Versöhnungstags, der alle Menschen in die göttliche Gnade einschließt, kommt in der Haftara des Morgengebets zum Ausdruck, wo ein Kapitel aus dem Buch Jesaja gelesen wird, das den tieferen Sinn des Fastens erklärt. Und auch für Else Lasker-Schüler ist der Versöhnungstag mit messianischer Hoffnung verbunden: „Er wird wiederkommen am Ende der Welt, der verkörperte Versöhnungstag, der Messias. Denn nur die Versöhnung aller Menschen vermag zu erheben und zu erlösen (…) Das Fasten des Magens ist es nicht, wenn die Seele nicht jedes Tandes entkleidet schimmert.: ‚Platzmachen für Gott‘. Auf das Fasten der Seele, darauf kommt es an, denn in diesen großen Stunden soll sie sich füllen mit unerschöpflicher jubelnder Liebe des Versöhnungstages“.
:
© JMW
Oblatenbild: Versöhnungstag, ca. 1900